„Oh weh!“: die deutsche Außenpolitik unter Annalena Baerbock
Seit fast drei Jahren steht die grüne Ministerin an der Spitze des Auswärtigen Amts. Zeit Bilanz zu ziehen.
Wo steht die deutsche Außenpolitik und wohin will sie? Mit diesen, zugegebenermaßen anspruchsvollen Fragen beschäftigt sich der heutige Artikel. Damit das Thema nicht den Rahmen dieses Formats sprengt, beschränke ich mich auf zwei Kernpunkte, die ich als besonders relevant erachte. Einerseits scheint das Interesse der Deutschen an der bundeseigenen Außenpolitik in den letzten Jahren und insbes. seit Beginn des Ukrainekrieges gestiegen zu sein, andererseits lässt sich jedoch der Glanz, den die deutsche Diplomatie in Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeiten besaß nirgendwo ausmachen.
Aus diesem Grund lautet die erste Frage:
Woran liegt es, dass es die deutsche Außenpolitik nicht mehr schafft, in den Alltag der Menschen vorzudringen, sie emotional mitzureißen und Anstöße zu geben, sich gemeinsam konstruktiv Gedanken über die Rolle Deutschlands, immerhin eine der wichtigsten Wirtschaftsnationen, in der Welt zu machen? Dazu kommt das überdurschnittlich große Interesse an Annalena Bearbock und ihrem politischen Profil im Verhältnis zur Wichtigkeit grundsätzlicher außenpolitisch relevanter Fragestellungen. Ich werde versuchen, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen.
Die zweite Frage zielt darauf ab, die Bilanz eben jener Annalena Baerbock an der Spitze des Auswärtigen Amtes kritisch zu hinterfragen. Was wurde in den vergangenen fast drei Jahren unter ihrer Führung erreicht, und – möglicherweise wichtiger - was eben auch nicht?
Es ist nicht unbedingt so, dass sich die Deutschen heute weniger für Außenpolitik interessieren würden als früher. Ganz im Gegenteil: es ist anzunehmen, dass angesichts der zunehmend als Bedrohung der eigenen Sicherheit und des Wohlstands wahrgenommenen Krisen jenseits der Staatsgrenze die Rolle Deutschlands in der Welt immer größere Beachtung findet. Ich behaupte jedoch, dass eine gefährliche Mischung aus Sensationsjournalismus, der sich von Kontroversen und Personendebatten nährt, eine sich im Umbruch befindende und immer weniger homogene Gesellschaft, mangelnde politische Bildung und Vertrauen in politische Institutionen sowie eine Außenpolitik, der es an Leitlinien und klarer Kommunikation mangelt, dazu führt, dass Deutschland im Ausland seit geraumer Zeit als nicht wirklich führungsstark wahrgenommen wird und im Inland wohl niemand so recht die Grundsätze, Richtung und Erfolge der deutschen Außenpolitik nennen könnte, falls er oder sie gefragt würde.
Empirisch lassen sich diese Vermutungen schlussendlich nur schwer belegen, da es einfach zu wenig verwertbare Quellen, wie Meinungsumfragen oder frei zugängliches Archivmaterial aus der Zeit vor der Wiedervereinigung gibt und außenpolitische Fragen auch immer geprägt sind von schwer quantifizierbaren Elementen, wie dem individuellen und kollektiven Sicherheitsgefühl. Einige der oben aufgestellten Thesen sind allerdings durchaus messbar. So zeigt ein Blick auf die Häufigkeit der getätigten Google-Suchen zu Baerbock sowie dem generischen Begriff Außenpolitik, dass die personenbezogene Suche deutlich „besser“ abschneidet, was ein größeres Interesse der Bevölkerung an ihrer Person als an ihrer Politik suggeriert.
Noch deutlicher wird es bei einem Vergleich von Baerbock in Verbindung mit Lebenslauf – ein Proxy-Begriffspaar für den polarisierende Effekt der Politikerin, welcher eine vorgeworfen wurde, ihren Lebenslauf beschönigt zu haben und regelmäßig aufgrund öffentlicher Pannen und Aussprachefehlern auf Englisch in der Kritik steht1 – und Diplomatie, ein beliebter Suchbegriff für alle politisch Interessierten, sollte man denken. Dass auch dieser der Baerbock’schen Wirkung unterliegt, zeigt nur einmal mehr, dass Menschen deutlich leichter für Personendebatten als für Sachthemen zu begeistern sind - ein Umstand, den sich die Medien selbstverständlich nur zu gerne zu Nutzen machen.
“Die deutschen Interessen in der Welt vertreten? Oh weh!”: Kinder sprechen oft das aus, was Erwachsene denken, aber sich nicht sagen trauen.
“Oh weh!“ soll die Tochter von Annalena Barbock auf die Unterrichtung ihrer Mutter, dass sie die nächste Außenministerin der Bundesrepublik werden und somit Deutschland in der Welt repräsentieren würde, geantwortet haben und damit eigentlich schon ziemlich gut vorweggenommen haben, was auf ihre Mutti (nicht die „Mutti“ der Nation, wohlgemerkt), das Land und die Weltpolitik zukommen würde.
In ihrer ersten Rede als Außenministerin skizzierte Annalena Baerbock die deutsche Außenpolitik und charakterisierte sie als wertegeleitet (eine Erwähnung) und modern (drei Erwähnungen). Gut, das Wort modern war dabei eher keine Überraschung, denn wer wünscht sich schon eine altbackene Außenpolitik im 21. Jahrhundert. Wertegeleitet war jedoch ein Begriff mit Aha-Effekt, war dieser doch erst noch mit Inhalt zu füllen und fand unter ihrem Vorgänger eigentlich kaum Erwähnung. Retrospektivisch wohl eher eine unglückliche Wahl, da geprägt von einer grünen Ministerin, war man durch die russische Invasion der Ukraine plötzlich zu, zumindest indirekten, Waffenlieferungen in Kriegsgebiete gezwungen, was mit der Moralethik der einst stark pazifistisch geprägten Partei Bündnis 90’ die Grünen eigentlich nur schwer vereinbar ist. Eine realpolitische Kehrtwende auch auf Kosten der eigenen Partei-DNA: das war wohl mit der angesprochenen modernen Außenpolitik auch gemeint.
Es ist anzunehmen, dass sich Baerbock in ihrer Antrittsrede auch von ihrem Amtsvorgänger, dem eher blassen und mäßig beliebten Juristen Heiko Maas abgrenzen wollte, welcher fast vier Jahre lang erfolglos versuchte, eine Allianz der Multilateristen zu formen, ohne wirklich jemals überzeugend dargelegt zu haben, was denn das eigentlich genau - abgesehen von einer Spitze gegen die Trump’sche Politik des Make America Great Again- bedeutet.2
Krisen, Krisen und nochmals Krisen. So kann man wohl die Herausforderungen der bisherigen Amtszeit Annalena Baerbocks zusammenfassen. Umso überraschender, dass es ihr bislang nicht gelungen ist, diese bewegende und bedrohliche Zeit zu prägen: große Momente wie Genscher's Prager Balkonrede oder ein ikonischer Stil wie Brandt’s charismatische Außenpolitik – welcher mitverantwortlich für seine Auszeichung mit dem Friedensnobelpreis war - fehlen in der Vita und öffentlichen Wahrnehmung Baerbocks, fairerweise aber auch der ihrer unmittelbaren Vorgänger, völlig. Haben sich die Zeiten denn so stark verändert, dass eine Außenpolitik mit Ecken und Kanten, mit Persönlichkeit und Charisma, mit Mut zur historischen Fehlentscheidung um des Friedens willen unter ihrer modernen Auslegungsweise nicht mehr vorgesehen ist?
Über die großen Herzensprojekte der Annalena Baerbock ist eher wenig bekannt.
Würde ihre Amtszeit heute enden, so bliebe Annalena Baerbock‘s Arbeitsbilanz, wenn nicht enttäuschend, zumindest rätselhaft. Würde man eine Umfrage erheben und zur Nennung der von der Bundesrepublik unter ihrer Amtszeit geschlossenen oder angestoßenen zwischenstaatlichen Verträgen auffordern, es würde wohl niemandem etwas einfallen. Klar, die vergangenen Jahre waren eher geprägt von Risikobewältigung- und Begrenzung als von der Schaffung oder Vertiefung konstruktiver Partnerschaften, jedoch wird nicht das Bild einer Ministerin mit hohem inhaltlichen Output in den Köpfen der Menschen hängen bleiben. Dazu kommt, dass es durchaus bedeutende Entwicklungen auf internationaler Ebene gegeben hat - so bspw. die überraschende Öffnung einiger Schlüsselstaaten, wie den USA und dem Vereinigten Königreich, für die Einführung eines globalen Mindeststeuersatzes; ein Erfolg, der wohl aber, wenn überhaupt, der Initiative des Kanzlers, Olaf Scholz, und des Finanzministers, Christian Lindner, beide große Befürworter in dieser Sache, zu verdanken war. Hinzu kommt, dass ausgerechnet der als "langweilig” geltende Kanzler den wohl stärksten Begriff der aktuellen Legislaturperiode mit Bezug auf die globalpolitische Rolle Deutschlands geprägt und für sich beansprucht hat: Zeitenwende.
Über die großen Herzensprojekte der Annalena Baerbock ist eher wenig bekannt. Befürwortet sie perspektivisch eine Annäherung zu Indien - immerhin eine aufstrebende Weltmacht - auch um sich unabhängiger von der Volksrepublik China machen zu können? Welche Schritte hat das Außenministerium unternommen, um den Herausforderungen des Klimawandels - immerhin DAS Identifikationsthema von Baerbock's Partei - gerecht zu werden? Wird die Außenpolitik der Bundesrepublik zukünftig wieder stärker von den Interessen der Vereinigten Staaten von Amerika geprägt sein oder möchte man das Recht auf Selbstbestimmung, wie im Falle des Vetos des ehemaligen FDP-Außenministers Guido Westerwelle gegen eine Teilnahme am USA-geführten Libyen-Einsatz, und bei einer möglicherweise stärker diplomatisch interpretierten Rolle innerhalb der Völkergemeinschaft, inspiriert durch die jüngsten Erfolge der Türkei als internationaler Vermittler, konsequenter einfordern?
Große Fragen von enormer Bedeutung für Deutschland, Europa und die Welt, deren Beantwortung, davon bin ich überzeugt, die meisten Menschen in und außerhalb Deutschands brennend interessieren würde. Selbstverständlich kann eine Person alleine diese Antworten nicht geben, aber Diplomatie funktioniert eben auch so, dass hierarchisch von oben nach unten die Leitlinien der Außenpolitik festgesetzt und kommuniziert werden.
Es gibt durchaus einige Gründe, die erklären könnten, weshalb die deutsche Außenpolitik nicht mehr die Stellung und Durchsetzungskraft besitzt, die ihr einmal große Strahlkraft verliehen hat. Zum einen befindet sich die deutsche Wirtschaft seit geraumer Zeit in einem von Konjunkturschwäche und internationaler Konkurrenz in Schlüsselindustrien wie der Automobilbranche geprägten Abwärtstrend, der am eigenen Selbstbewusstsein nagt. Zum anderen gibt es die großen nationalen Identifikationsthemen und Ziele, wie den Wiederaufbau, die Wiedervereinigung oder die Wiedererlangung des eigenen Ansehens in der Welt, schlicht nicht mehr. Selbstverständlich haben längst andere Themen wie die Fachkräfterekrutierung im Ausland, die energiepolitische Unabhängigkeit oder die Bewältigung der gestiegenen Zuwanderungszahlen ihren Platz eingenommen, aber diese stimulieren eben nicht die deutsche “Seele” wie es einst mit den großen Leitmotiven der Fall war. Nun möchte ich nicht den Eindruck erwecken, dass hier ein realitätsferner Nostalgie-Romantiker sitzt, der zugegebenermaßen die Zeit vor der Wiedervereinigung nicht einmal selbst erlebt hat (Geburtsjahr des Autors: 1992) und die Herausforderungen unserer Zeit relativeren möchte. Das Gegenteil ist der Fall: Politiker*innen werden nicht müde zu betonen, in welch herausfordernden und präzedenzlosen Zeiten wir doch leben und, obwohl die Zahl der Krisen bedrohlich zu wachsen scheint, muss man doch fairerweise darauf hinweisen dürfen, dass eine Zeit der Massenarmut und Massenzerstörung nach dem zweiten Weltkrieg, eine zurecht nachhaltig zerstörte internationale Reputation Deutschlands, Ölkrise, Korea- und Vietnamkrieg, Kalter Krieg usw. ein wohl nicht weniger herausforderndes Umfeld darstellte, um auf internationaler Ebene Politik zu treiben, und doch standen am Ende wahre und wichtige Erfolge für die deutsche Außenpolitik: von einer Wiederherstellung der eigenen Souveränität und internationalen Achtung, über eine mit den internationalen Partnern abgestimmte Wirtschaftspolitik, charaktierisiert durch eine kluge, exportbasierte Strategie und die Positionierung der deutschen Wiedervereinigung als Schlüsselthema zu Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Diese Erfolge hatten eines gemeinsam: sie waren getrieben von echten Bedürfnissen, wirtschaftliche, politische und, ja, auch seelische, sowie einer leidenschaftlich gelebten Außenpolitik, für welche die Stärken und das Potenzial der eigenen Bevölkerung im Vordergrund standen. In diesem Sinne hatte Deutschland schon immer eine wertegeleitete Außenpolitik; vor allem war es allerdings eine zielgerichtete und erfolgsorientierte Außenpolitik.
Das Fazit fällt schlussendlich wenig überraschend aus: Deutschland befindet sich in einer Umbruchs- und Findungsphase, die wohl größte seit der Wiedervereinigung, und zu insinuieren, dass es mit einer Tasse starken Kaffee, wie es Christian Lindner vor einigen Monaten pointiert zuspitzte, getan wäre, kann getrost in die Kategorie Galgenhumor eingeordnet werden. Der aktuellen Administration gebührt Respekt dafür, dass sie die teils unvorhergesehenen stürmischen Wellen des globalen Sturms, von China über Russland bis in den Nahen Osten, bislang schiffbruchlos und mit einer gewissen Würde bewältigt hat. Erforderlich ist allerdings nach wie vor die Entwicklung eine Vision, die den Ambitionen Deutschlands gerecht wird und die durchaus die Herausbildung eines „Wir-Gefühls“, eines gemeinsam geteilten Deutschlandbilds, voraussetzt. Zudem müssen die Bündnisse der Zukunft klar definiert und in sie investiert werden. Ein chinaskeptischer oder sogar feindlicher Kurs macht bspw. die Annäherung an Indien, die zweite und immerhin demokratische asiatische Supermacht, aus meiner Sicht zwingend erforderlich. Dies sollte mit dem nötigen politischen Willen gelingen, gibt es zwischen beiden Ländern doch zahlreiche bereits geschlagene Brücken in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Und sollten die Vereinigten Staaten von Amerika zukünftig in internationale kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt werden (Taiwan und der Konflikt im südchinesischen Meer kommen in den Sinn), sollte man bereits vorher die eigenen Positionen definiert haben, insbes. angesichts einer zunehmenden energiepolitischen Abhängigkeit von eben jener USA.
Man sieht: es gibt viel zu tun, viel zu verlieren aber eben auch zu gewinnen. Es bleibt zu hoffen, dass Deutschland die sprichwörtliche Kurve kriegt und sich international nachhaltig positionieren kann, sodass auch der Nachwuchs der Außenministerin irgendwann einmal sagen kann: „Deutschland in der Welt vertreten? Au ja!“
Zu erwähnen wären bacon (anstatt beacon) of hope oder die yemenischen Husi (anstatt Huthi) Rebellen sowie die Aussage “We are fighting a war with Russia”, welche von Teilen der bereits verunsicherten Bevölkerung als mögliche Kriegserklärung aufgefasst wurde.
Die meisten werden sich an Heiko Maas erinnern aus einem mittlerweile berühmt-berüchtigten Clip, in dem zu sehen ist, wie er und die deutsche Delegation sich sichtlich über eine Rede von Donald Trump vor der UN-Vollversammlung 2018 amüsieren, während der US-Präsident Deutschland unter anderem vorwirft, in kritischer Abhängigkeit von Russland zu stehen - damals eine Außenseitermeinung, heute…nun wir wissen es alle.